Entsprechende dem Jahreswechsel möchte (auch) ich mit ihnen einen Blick in die Vergangenheit wagen, der uns letztendlich in die Zukunft führt.

Und zwar zu der Frage: Warum sind wir Menschen so wie wir sind?
Einerseits aufopferungsvoll bis zum Einsatz des eigenen Lebens, andererseits brutal und menschenverachtend. Der Staatstheoretiker Thomas Hobbes hat dazu den Satz geprägt: „homo homini lupus est“. Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf. Und er hat damit um 1630 den vorstaatlichen Naturzustand beschrieben. Heute nach zwei Jahrtausenden Christentum, niedergemetzeltem Bauernaufstand, blühendem Sklavenhandel,  Judenvernichtung und Stalinismus behaupte ich, er hat sich geirrt! Die Formel gilt nicht für den vorstaatlichen Naturzustand, sie gilt vor allen Dingen für den staatlichen Kulturzustand, für unsere aufgeklärte und moderne Welt. Wir wissen jedoch, dass das nicht die einzige Wahrheit ist, sonst könnten wir eigentlich einpacken. Warum sind wir Menschen so wie wir sind, und sind wir nun im Grunde unseres Herzens gut oder böse? Zu diesen Fragen haben sich viele kluge Philosophen den Kopf zerbrochen. Eine, der für mich interessantesten Erklärungen, ist die Betrachtung unserer menschlichen Entwicklungsgeschichte. Dabei konzentrieren sich die Fragen darauf, inwieweit unser Leben und Erleben von urmenschlichen Erfahrungen gedeckt ist oder nicht? Oder konkreter: Haben wir zu unserem Erleben ein urmenschliches Verhaltensmuster? Und: Inwieweit ist dieses Verhaltensmuster hilfreich?

Seit einigen Jahrhunderttausenden leben wir Menschen als Homo Sapiens auf der Erde, seit etwa 6 Mio. Jahren sind Hominiden mit aufrechtem Gang nachweisbar. Um die Frage nach einem uralten kollektiven Bewusstsein, stellen zu können müssen wir uns auf das Leben der Menschen von vor einigen 100 000 Jahren einlassen – von dem wir  leider jedoch so gut wie nichts. – Ich möchte es trotzdem versuchen:

Wir schreiben das Jahr 300 000 vor unserer modernen Zivilisation. Wir nähern uns einer Gruppe von Homo sapiens in der afrikanischen Savanne. Sie besteht aus etwa 50 Individuen, die Älteren unter ihnen sind vielleicht 40 Jahre alt. Aus Zweigen und Gräsern hat sich jede Familie eine einfache Hütte errichtet. Um diese 7 Hütten liegt ein Verhau von Dornen und Ästen als Schutz vor wilden Tieren.  – Die Männer gehen gerade mit langen Stöcken auf die Jagd. – Die Frauen sitzen im Kreis, zerkleinern Wurzeln und stillen Kinder. Ein paar Individuen sitzen beieinander und lausen sich gegenseitig ausgiebig, unter ihnen ein kräftiges Alphatier.

Vor Urzeiten haben sich unsere Vorfahren von Sammlern zu Jägern entwickelt. Aus einfachen Sozietäten sind Clans und Stämme entstanden. Menschen, die in Leben und Tod aufeinander angewiesen sind, kleine verschworene Gemeinschaften mit vielleicht 100 Individuen, die sich in einer unwirtlichen, lebensfeindlichen Umgebung durchschlagen. Es gelten ungeschriebene Regeln und Tabus, an sich jeder hält. Die urmenschlichen Erfahrungen dieses vergleichsweise ähnlichen Stammeslebens wiederholten sich jahrhunderttausenden und wurden so zu einem kollektiven Urbewusstseins. Und dieses steckt bis heute in uns, in jeder Faser unseres Lebens.

Der Zoologe Desmond Morris beschriebt den Vorgang der Menschwerdung folgendermaßen: „Erdgeschichtlich betrachtete hat sich seit kurzem eine Tierart zum Herrscher über alle anderen Lebensformen aufgeschwungen Ein schmächtiger Primat ohne natürliche Waffen ohne Gift, ohne spitze Stacheln, ohne Reißzahn ohne Krallen. Sein Erfolg ist bemerkenswert. Selbstgefällig als Homo sapiens bezeichnet gab dieser Affe seine ursprüngliche Lebensweise auf, stellte sich auf die Hinterbeine und begann zu sprechen. Mit kaum mehr als einem großen Gehirn ausgestattet, begann diese zwanghafte neugierige pausenlos schatzende Kreatur über den Erdball zu schreiten und alles Land unter ihren Füßen zu vereinnahmen. Der Rest ist buchstäblich Geschichte.“

Meine Damen und Herren, dazu nochmal die Frage von oben: Sind wir im Grunde gut oder böse veranlagt?? Ich greife den Vergleich von Thomas Hobbes mit dem Wolf nochmal anders auf.
Und zwar insofern Wolf und Menschen ein äußerst ähnliches Sozialverhalten haben. Wölfe leben und jagen erfolgreich im Team. Die Beute wird vergleichsweise grausam gerissen und getötet. Ein Wolf, mit tödlichen Reißzähnen bewaffnet, kann jedoch problemlos zwischen der Grausamkeit, die er seiner Beute antut und seinem Verhalten einem Artgenossen gegenüber unterscheiden. Selbst bei heftigen Auseinandersetzungen um Weibchen oder Führungspositionen verletzen sich Wölfe gegenseitig nicht ernsthaft. Doch zurück zu der Gruppe homo sapiens von vorhin, was denken Sie, haben diese Stammesmenschen nicht mindestens genauso gut zwischen Artgenosse und Beutetier unterscheiden können? Was also hat uns so verändert oder ent – artet?

Menschheitsgeschichtlich leben wir erst seit kurzem nicht mehr in einem Clan oder Stamm, in dem jeder jeden kennt, in dem Tabus aus grauer Vorzeit unumstößlich Geltung haben. Seit einigen tausend Jahren leben wir in anonymen Massengesellschaften und das ist unser Kernproblem. –

Zwangsläufig haben wir unterscheiden gelernt zwischen denen, die zu unserer Gruppe gehören, in der Familie, im Handballverein, am Arbeitsplatz, und eben den Anderen, denen, die wir nicht kennen, nicht alle kennenlernen können oder auch nicht wollen. Aber wir begegnen ihnen, diesen anonymen anderen, zwangsläufig und ununterbrochen. – Was tun? – Die These des Zoologen Desmond Morris lautet: wir haben uns angewöhnt diese Anderen als ein Teil der Natur, vielleicht einer anderer Art Tier zu betrachten oder sie sogar als Bedrohung oder Beute einzustufen.

Ganz anders jedoch unser persönliches Miteinander in einer Gruppe von Menschen, die sich kennen, die etwas miteinander zu tun haben wollen. Hier können wir uns auf den Einzelnen verlassen, können ihm Vertrauen entgegen bringen, denn eine jahrhunderttausende alte Tradition bürgt für ihn, für jeden von uns, der zu einem unserer modernen Clans zählt.

Die Antwort auf die Eingangsfrage ist für mich eindeutiges:
Ja, der Mensch ist gut, seine positiven Veranlagungen überwiegen eindeutig. Neben seinem Verstand hat ihn vor allem seine Kooperationsfähigkeit und sein Altruismus, schlichtweg seine Menschlichkeit über die Maßen erfolgreich werden lassen. – und die Ironie des Schicksals: dieser Erfolg hat uns in eine anonyme Massengesellschaft geführt, in der nun auch unsere un – menschliche Seite Realität wurde. – eine Gesellschaft in der unser stammesgeschichtliches Repertoire bei weitem nicht mehr ausreicht.

Schon vor einigen tausend Jahren haben kluge Menschen erkannt, dass Menschen in Anonymität ordnungspolitische Regeln brauchen, einen Moralkodex, der über die natürlichen Stammesregeln hinaus reicht. So entstand z.B. der Kodex Hamurabi, die 10 Gebote, die Scharia oder unsere christlichen Wertvorstellungen von der Nächstenliebe, die gute alte Regeln aufgreifen und durch neue ergänzen. Täglich arbeiten die Regierungen an der weiteren Ausfeilung wichtiger Regeln. Da könnte man eigentlich meinen, na dann vergessen wir doch unser stammesgeschichtliches Repertoire, nachdem es sowieso nicht mehr passt, wir haben neue Regeln mit denen wir uns auf die Gegenwart und die Fragen unserer modernen Gesellschaft konzentrieren sollten.

Das ist nur teilweise richtig, denn diese neuen Regeln machen uns Probleme! Wir Menschen haben sie nämlich leider nicht verinnerlicht. Beispiel das Gebot „Du sollst nicht töten“ es hat inzwischen eine mindestens 2000 jährigen Tradition, wird allgemein für gut geheißen und dennoch beständig mit Füssen getreten. – Wir müssen erkennen: So einfach ist das nicht, Regeln aufstellen und sich daran halten. Erschwerend kommt hinzu, dass uns urmenschliche Erfahrungen so leicht nicht loslassen. Sie begleiten uns so zivilisiert wir auch nach außen hin, vor allen Dingen heute erscheinen mögen.

Dazu Erich Kästner:
Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt, behaart und mit böser Visage.
dann hat man sie aus dem Urwald gelockt und die Welt asphaltiert und aufgestockt
bis zur dreißigsten Etage. Da saßen sie nun den flöhen entflohn in zentralgeheizten räumen
da sitzen sie nun am Telefon und es herrscht noch derselbe ton wie seinerzeit auf den Bäumen – So haben sie mit dem Kopf und dem Mund den Fortschritt der Menschheit geschaffen. Doch davon mal abgesehen und bei Lichte betrachtet sind sie im Grund noch immer die alten Affen.

Wenn wir zugestehen, das da was dran ist, so wird der Blick in die unsere graue Vergangenheit äußerst interessant. Nochmal, dieser Blick zurück bietet vielfach keine Lösung für unsere moderne Gesellschaft, aber er zeigt uns woher wir kommen und womit wir uns mit unserer Veranlagung leicht oder auch schwer tun.

Beispiele: Nochmal die Gruppengröße
Bei kleineren, persönlichen Gruppen sind stammesgeschichtliche positive Emotionen zu erwarten und sie erleichtern unser Miteinander enorm. Bei größeren und folgerichtig anonymen Gruppen trifft dies nicht zu. Das haben z.B. urchristlichen Gemeinden intuitiv richtig erfasst. Ab etwa 70 – 100 erwachsenen Mitgliedern haben sich die Gemeinden geteilt um persönlich in Kontakt zu bleiben. Der Blick auf unsere Pfarreiengemein-schaften erfüllt mich daher mit Sorge.

Beispiele: Gehorsam
Bei intakten Affengesellschaften kann man beobachten, dass ein Alphatier das Sagen hat. Rangniedere Gruppenmitglieder gehorchen, jedoch nicht immer. Fühlen sie sich unbeobachtet, so nutzen sie dies gerne mal für ihren persönlichen Vorteil. – Genauso verdrücken meine Kinder heimlich Süßigkeit vor dem Essen, Teenies feiern Feten, wenn die Eltern mal verreist und ich fahre mal schnell zum Einkaufen, ohne den Gurt anzulegen – sieht ja gerade kein Alpha- oder Betabeamter!

Beispiel Geschwindigkeit
Es gibt keine urmenschliche Erfahrung die mir das Gurt anlegen nahelegt. Denn in meinem Auto sitze ich bequem mit Rückenlehne. Entweder zusammen mit Stammesangehörigen oder alleine, jedenfalls in einem geschützten Raum – urmenschlich gesehen eine absolut gefahrlose Situation.
Ganz schwer haben es bei diesem Thema männliche Jugendliche. Sie müssen zeigen, wer am schnellsten läuft oder fährt, der Stärkste ist oder die meisten PS hat. Denn das entscheidet schließlich über ihren Rang in der Gruppe und den Kampf ums Weibchen, so suggeriert uns unsere stammesgeschichtliche Erfahrung Für die Lebensbedrohung bei hohen Geschwindigkeiten bietet sie uns keine Hilfe.

Beispiel Komplexität:
Jugendliche können heute zwischen etwa 100 Berufsmöglichkeiten entscheiden?
Welcher der beliebig vielen potentiellen Partnern, die meine Augen sehen ist für mich geeignet?
Welche der 30 Programmen oder 50 Zeitschriften passt zu mir?
Stammesgeschichtlich eine totale Überforderung
Welche Lokalzeitung sollte ich wählen?
Stammesgeschichtlich ist das ok.

Beispiel: Mathematik
Die Piraha, Ureinwohner in Brasilien, zählen gemäß der letzten „Geo“-Ausgabe folgendermaßen: ganz wenig, ein bißchen, viele und sie sind vermutlich nicht dümmer als wir, aber sie sehen keinerlei Notwenigkeit für mehr Mathematik. Für das Überleben und die Fortpflanzung ist Mathematik aus urmenschlicher Sicht völlig überflüssig

Beispiel Klimaerwärmung:
Soll ich mich persönlich um die Klimaerwärmung kümmern?
Muss ich mir eine Meinung über 2 Grad Erderwärmung bilden?
Muss ich darüber nachdenken, dass wir Deutschen pro Jahr etwa 800 Mio. Tonnen CO² in den Himmel blasen? – und dass das in einigen Jahren höchstwahrscheinlich ein echtes Problem wird?
Meine urmenschliche Erfahrung sagt mir dazu: Nichts! CO2 kann ich nicht fühlen, nicht hören und nicht sehen, Unter 800 Mio. Tonnen kann ich mir nichts vorstellen, von einer Gefahr ist wirklich nichts zu spüren. Urgeschichtlich liegt es nahe die Hände in den Schoß zu legen und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen und sich um näherliegendes zu kümmern. Der Blick nach Kopenhagen scheint dies zu bestätigen.

Wenn wir nicht wollen dass uns die Klimaerwärmung kalt lässt, so wüsste ich nur ein geeignetes Mittel, dass uns urmenschlich sozusagen vom Hocker zu reißt: das ist die Angst. Dramatisch veranschaulichte Folgen der Erderwärmung können uns beeindrucken und beängstigen. Die Angst kennen wir nur zu gut, denn im Grunde unseres Herzens sind wir neben Jägern, auch Herdentiere, beständig auf der Flucht vor Gefahr. – Dass unsere Angst beliebig missbraucht wird und sicher kein guter Ratgeber ist, das steht auf einem anderen Blatt.

Ich fasse zusammen:
Stammes- oder urgeschichtliche Erfahrungen stecken tief in uns. Sie können uns nützlich oder auch hinderlich sein. Wenn wir uns mit Verstand für einen Weg entscheiden, der unseren Urerfahrungen nicht entspricht, so müssen wir damit rechnen, dass es ungleich schwerer wird und dass wir intelligente Strategien, entwickeln müssen um erfolgreich zu sein.
Nehmen wir einen durch Urerfahrungen gedeckten Weg, so geht uns das zwar leicht n der Hand, umso mehr jedoch sollten überprüfen ob unser Verhalten im Jahr 2010 gesellschaftlich vernünftig und wünschenswert ist. Danke schön fürs Zuhören! Und ein frohes neues Jahr!