Mit großer Selbstverständnis und Überzeugung fordern wir heute das Selbstbestimmungsrecht der Völker für die Ukraine ein. Die Ukrainer haben sich demokratisch für Europa entschieden. Der Aggressor Putin ist der Böse und der Angriff auf die Ukraine eine Ungeheuerlichkeit! Auch abgesehen von ggf. berechtigten russischen Sicherheitsbedürfnissen der Nato gegenüber, ist dieses russische Vorgehen beispiellos und unglaublich! Stimmt das?

Wie fast immer lohnt ein Blick in die Geschichte!

416 vor Christus war Athen auf der Höhe seiner Macht und im Klinsch mit den Bewohnern des Peleponnes, angeführt von Sparta. Um ihren Einflussbereich zu vergrößern forderten die Athener die Bewohner der Insel Milos (Melos) auf ihre Neutralität aufzugeben, Position zu beziehen und Tribut zu zahlen. Die Auseinandersetzung ist als Melierdialog in die Geschichte eingegangen. Die Melier widerstanden und beriefen sich auf Recht und Gerechtigkeit. Im Ergebnis bezahlten die männlichen Bewohner ihre Überzeugung mit dem Leben – Frauen und Kinder wurden von den Athenern versklavt.

Im Frieden von Utrecht 1713/14 teilten Frankreich, England, Österreich und die Niederlande die ehemals spanischen Besitzungen unter sich auf. Spanien selbst und die betroffenen Völker hatten kaum Mitspracherecht, die dynastischen Interessen der Mächtigen dominierten. Europa wurde neu geordnet und Kolonialgebiete verteilt. Recht und Ansprüche kleinerer Akteure übergangen einfach wurden.

Im 18. Jahrhundert war das Königreich Polen-Litauen geschwächt. Die Nachbarn Russland, Preußen und Österreich nutzten diese Machtlosigkeit und teilten hungrig das Staatsgebiet gegen jedes Recht und Gesetz unter sich auf. Vergeblich berief sich das Königreich auf internationale Verträge und sein legitimes staatliches Existenzrecht. Für 120 Jahre verschwand Polen von der Landkarte.

Ende des 18. Jahrhunderts definierten US- Amerikaner und Franzosen erfolgreich ihr jeweiliges Nationalgefühl in Nationalstaaten. Die Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker gegen andere Mächte oder absolutistische Herrscher gewann Raum.

1809 musste Dänemark das Königreich Norwegen an Schweden abtreten, denn Schweden hatte im Frieden von Fredrikshamn Finnland an Russland verloren und „brauchte“ nun ein Ersatzterritorium. Norwegen wurde dabei nicht gefragt – es war Machtpolitik pur.

Nach dem Sturz Napoleons ordneten die Sieger auf dem Wiener Kongress 1814 Europa neu. Die Selbstbestimmung und das Nationalgefühl vieler kleinerer Staaten übergangen sie bewusst. Polen, Italiener, Deutsche, Norweger, Ungarn, Tschechen, Balkanvölker zogen den kürzeren. Großmächte stellten ihre Eigeninteressen über das Recht kleinerer Staaten.

Auf der Kongokonferenz, in Berlin 1884/85, teilen Europäischen Mächte per Abkommen Afrika in Einflusszonen auf, um Konflikte untereinander zu vermeiden. Afrikanische Völker hatten dabei keinerlei Stimme oder Mitsprachemöglichkeit.

Ein Schockbeispiel nackter Machtpolitik, ohne moralischen Anspruch, waren die  Beschlüsse des Münchner Abkommens 1938. Gegen jedes Völkerrecht wurden der schwachen Tschechoslowakei die Sudetengebiete abgenommen. Die Tschechoslowakei selbst, ein souveräner Staat, war an den Verhandlungen nicht beteiligt. Es verlor sein Territorium ohne eigene Zustimmung. Die Westmächte opferten Gerechtigkeit und Souveränität eines kleinen Staates der deutschen Machtpolitik und dem lieben Frieden.

Nach den Großmachtsphantasien der Nazis, verankert die Vereinten Nationen 1945 das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der UN-Charta Art. 1 Abs. 2.. Danach beriefen sich vor allem viele ehemalige europäische Kolonien in Afrika und Asien darauf. Internationale Pakte über Menschenrechte 1966 machten das Selbstbestimmungsrecht im Völkerrecht verbindlich. – Beides hatte Wirkung, dennoch zeigt die Geschichte, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker weiterhin missachtet wurde und wird.

Die Kurden sind ein Volk von etwa 30–40 Millionen Menschen, das vor allem in der heutigen Türkei, Syrien, Irak und Iran lebt. Sie haben eine eigene Sprache, Kultur und Geschichte, aber nie hatten sie einen dauerhaft anerkannten Nationalstaat. Die Nachbarn, vor allem die Türkei haben diesen selbstverständlichen Anspruch auf Autonomie stets zu verhindern gewusst.

Vor allem der Zerfall der UDSSR hat uns Mitteleuropäern das Gefühl vermittelt, dass Völker ihre zukünftige Ordnung in Eigenverantwortung bestimmen könnten. – Heute lernen wir: das muss nicht so sein, oft bleibt es ein idealistischer Versuch Selbstbestimmung vor Machtpolitik zu setzen. Nur weil es manchmal gelingt und so schön wäre ist es noch lange nicht das ,Normal‘.

Tatsächlich ordnen Großmächte die Welt weiterhin nach ihrer Machtlogik. Das Recht gilt nur zwischen Gleichstarken; die Schwachen müssen gehorchen. “Ein kluger Hinweis lautet: „Sorge dafür, dass du bei Verhandlungen mit am Tisch sitzt, sonst könnte es passieren, dass du auf der Speisekarte stehst“.

Wen wundert es also, dass Donald Trump Kanada und Grönland übernehmen will, Russland mindestens mal die Ukraine, Moldau und Georgien? China wird sich Taiwan einverleiben und Teile des Südchinesischen Meeres, egal wie die anderen zetern und sicher gegen jedes Selbstbestimmungsrecht oder historische Zugehörigkeiten.

Mit seinem völkerrechtswidrigen Krieg steht Putin also nicht alleine da. Im gegenteil müssen wir uns fragen lassen, waren wir nicht gefährlich naiv die Ukraine nach ,Europa‘ einzuladen? Haben die USA einfach hoch gepokert und zwar bewusst gegen die ausgesprochenen Sicherheitsbedürfnisse Russlands? Ich denke und hab das auch vor diesem unseligen Krieg vertreten: Die Ukraine kann nicht die Seiten wechseln und die Aussicht sich der EU und der Nato anzuschließen, war fahrlässig und naiv.

Nebenbei: Heute müssen wir Europäer uns warm anziehen. Militärisch sind wir schwach, der Nato- Beistandspakt wackelt und der innereuropäisch Zusammenhalt ist marginal. Wenn wir nicht Stück für Stück auf der Speisekarte der Großen landen wollen, gilt es gemeinsame EU- Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten und die Einflüsse Chinas, Russlands und der USA zurückzudrängen.
Ein saftiger Braten sind wir von außen betrachtet allemal!